A vor LT: Die Wörter alt, kalt, bald

Allen drei Wörter alt, kalt und bald ist gemeinsam, dass bei Ihnen im Hochdeutschen — und dem Altdeutschen, dem sie entstammen — ein kurzes A vor einem LT oder LD steht. Diese spezielle Konstellation, wie sie auch in den Wörtern Wald, Salz, Falte, halten usw. auftritt, ist besonders interessant, da sie in den Dialekten charakteristische Wandlungen durchlaufen hat. Bleibt das A kurz, oder wird es lang? Ist das A hell oder dunkel? Fällt das T bzw. D am Ende ab oder bleibt es erhalten? Deswegen habe ich diese drei Wörter den vier Frankfurt-Sätzen zugefügt. Natürlich sind sie auch in den viel umfangreicheren 40 Sätzen enthalten, die Georg Wenker in 1880er Jahren an alle 50.000 Volksschulen des Deutschen Reichs geschickt wurden, um den damaligen Stand der Mundart(en) zu erfassen [1].

Wie werden nun diese drei Wörter heute in Frankfurt gesprochen? Dazu werfen wir einen Blick in die Auszählung der Einsendungen zu den Frankfurt-Sätzen, die ein klares Muster zeigt:

Bei denen direkt Frankfurt zuordenbaren Einsendungen dominiert bei alt mit ca. 60% die Form mit einem langen A und ohne T — also aal, [aːl]. Die alternative Version mit kurzen A und erhaltenem T — genau wie im Hochdeutschen: alt, [alt] — weist 40% auf. Eine Form ohne T und einem langem dunklen Å — åål, [ɑːl] — wurde nicht gemeldet bzw. konnte ich in den Tonaufzeichnungen nicht hören [2].

Bei kalt und bald hingegen ist Balance deutlich in die andere Richtung verschoben. Hier finden wir nur in ungefähr 20% bzw. 10% der Meldungen die vom Hochdeutschen abweichende Form mit langem A und ohne T bzw. D — kaal, [kaːl] sowie baal, [baːl] oder ball, [bal]. Die dominierende Form ist die dem Hochdeutschen gleiche mit kurzen A und T bzw. D, also kalt, [kalt] und bald, [bald]. Auch hier gab es keine Meldungen mit dunklem langem Å [3].

Wie erklärt sich dieses Nebeneinander der Formen mit und ohne T bzw. D? Dazu werfen wir einen Blick in die originalen handgezeichneten Karten des Deutschen Sprachatlas bzw. die originalen Rückmeldungen der Zeit, die den Stand der Dialekte um 1880 dokumentieren [4]:

Für alt und kalt zeigt sich im Großen und Ganzen dasselbe Bild: Frankfurt liegt tief in einem Gebiet, in dem kurzes A mit erhaltenem End-T — also alt, [alt] und kalt, [kalt] — insbesondere im Süden die dialektale Leitform ist und welches sich über die Wetterau bis nach Gießen im Norden erstreckt (rosa Markierung auf den Karten). Das ist insofern interessant, als dass diese dialektale Form dem Hochdeutschen gleicht. Im Norden und Osten schließt sich ein Gebiet an, in dem die dialektale Form deutlich abweicht: es ist die Form mit langem A und ohne T — also aal, [aːl] und kaal, [kaːl] (blaue Markierung auf den Karten).

Aber nördlich über Frankfurt beginnend, mit dem Main als südlicher Trennlinie, die ganze Wetterau umfassend, befindet sich ein Gebiet — auf den Karten angezeigt mit den blauen Punkten und roten Querstrichen —, in dem die Formen mit langem A und ohne T stark einstreuen; so stark, dass man zweifeln mag, ob nicht eher diese Form die Leitform sein sollte (was übrigens dann in der gedruckten Kartenversion von ca. 1950 so gedeutet wurde).

Die Frankfurter Vororte sprachen 1880 — und je häufiger, je mehr sie noch bäuerlich bzw. feudal-ländlich geprägt waren — die Formen aal, [aːl] und kaal, [kaːl] während Frankfurt alt, [alt] und kalt, [kalt] hatte. Das zeigt sich schön in den handschriftlichen Wenkerbögen von Frankfurt und Bornheim, die in obigem Schaubild gezeigt werden [5]. Die Aussprache mit kaal, [kaːl] hörte Heister noch 1925 in Bornheim; im selben Jahr notierte sie Freiling noch für Oberrad. Früheste Sachsenhäuser Mundartdichtung schreibt entsprechend ahl, wie z.B. Breimund 1821. Die nähere Umgebung im Osten und Südosten verwendete analog bis in 20. Jahrhundert hinein die Formen ohne T: Hanau-Mittelbuchen hatte um 1926 aal, [aːl], ebenso Götzenhain 1936. Interessant ist, dass aber der Taunus noch 1960 eine interessante Mischleitform aufwies: mit einem erhaltenen D aber mit dunklem langem Å in ååld, [ɑːld] und neutralem langem A in kaald, [kaːld] (Weitere Belege zur Umgebung, siehe Frankfurter Aussprachewörterbuch a.a.O.).

Die Aussprache alt, [alt] und kalt, [kalt] — also dem Hochdeutschen gleich! — scheint hingegen sicher die Leitform für das Frankfurterische des frühen bis mittleren 19. Jahrhundert gewesen zu sein.

Oppel belegt um 1850 durchweg die Form alt, [alt], etwa in Der alt Mann. Stoltze schreibt immer alt, z.B. in noch sei alt Kuppel gehat. Die ältesten Belege haben die Form mit T, so etwa bei Textor 1794 mit Unser alter Thorwächter. Für kalt ist die Beleglage entsprechend: Oppel notiert kalt, Stoltze dichtet immer mit der T-Form, etwa Uff aamol werrd dersch widder kalt (zu den Quellenverweisen, siehe Frankfurter Aussprachewörterbuch a.a.O.).

Aber nun passierte in Frankfurt etwas Besonders: die ursprünglichen Formen mit T in alt und kalt, die ja dem Hochdeutschen entsprechen, wurden durch die abweichende Form der Vororte — also die Form ohne T und mit langem A — ergänzt und in den Hintergrund gedrängt! Der Vorgang muss Ende des 19. Jahrhunderts eingeleitet worden sein. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich, wie oben beschrieben, nur Belege für alt, [alt] und kalt, [kalt]; im Wenkerbogen für Frankfurt 1880 ist noch alte und kalte vermerkt; aber schon 1877 nennt der Sprachforscher Wülcker åål, [ɑːl] als Leitform, also jene ohne T und mit dunklem langem Å. Den ältesten Beleg für kalt ohne T, den ich finde, ist kalle Stubb von 1882 bei Born. Rauh hörte um 1920 alle drei Formen nebeneinander, åål, [ɑːl], kåål, [kɑːl] neben aal, [aːl], kaal, [kaːl] als Leitform und alt, [alt] und kalt, [kalt] als Nebenformen! Um 1940, als Rauh und Bodensohn Materialien zu dem Frankfurter Wörterbuch sammelten, überwiegen die Belege ohne T.

Bei bald ist die Geschichte etwas anders. Frankfurt liegt um 1880 in einem weiten Gebiet mit ball, [bal] oder baal, [baːl] als Leitform, also in dem erhaltenes D völlig unüblich war (siehe die Karte des Deutschen Sprachatlas oben). Der Wenkerbogen aus Bornheim zeigt erwartungsgemäß bal; Götzenhain hat 1936 baal, [baːl], genauso wie der gesamte Taunus noch um 1960.

Trotzdem scheint die ursprüngliche Form für bald in Frankfurt immer die mit D gewesen zu sein, also bald, [bald]. Stoltze schreibt immer bald, bei Oppel findet sich ebenso nur die Form mit D, ebenso auf dem Wenkerbogen von 1880. Aber genauso wie bei alt und kalt dringt nun die Form ohne D von den Vororten in die Stadtmundart ein. Wülcker gibt påål, [pɑːl] als Leitform schon 1877 an, also mit langem dunklem Å und ohne D. Bei Rauh ist ball, [bal] — also mit kurzem hellen A, aber eben auch ohne D — die Leitform 1921.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Frankfurterischen Formen alt, [alt], kalt, [kalt] und bald, [bald], völlig gleich dem Hochdeutschen. Sie wurden bis Anfang des 20. Jahrhunderts um die Formen der Vororte ohne das T bzw. D ergänzt und dann weitgehend durch sie verdrängt. Frankfurt sprach spätestens um 1920 also weitgehend aal, [aːl], kaal, [kaːl] und ball, [bal] — mit den Variationen åål, [ɑːl], kåål, [kɑːl], båål, [bɑːl] und baal, [baːl].

Die dem Hochdeutschen gleiche Dialektform des alten Frankfurterischen wurde durch eine dem Hochdeutschen fremde Form im neueren Frankfurterisch ersetzt!

Über das Warum dieses unerwarteten Vorgangs — Dialekt verschwindet nicht, nein, er entsteht! — lässt sich nur spekulieren. Um 1900 explodierten Frankfurts Bevölkerungszahlen, ständig neu Zuziehende wurden zum Träger der Mundart — möglicherweise bestand das Bedürfnis dieser neuen Mundartsprecher eine Form zu verwenden, die deutlich markiert ist.

Wenn wir heute noch die neu-alten aal, [aːl] und kaal, [kaːl] hören, so sind das Relikte dieser um 1900 neu entstandenen Formen — wenn wir die Formen alt, [alt] und kalt, [kalt] hören, sind dies aber nicht mehr die Formen des alten Frankfurter Stadtdialekt: das sind vielmehr die Formen des Hochdeutschen, die die deutlich dialektal markierten Reliktformen zurückdrängen, und zufällig und völlig unbewusst genau wieder den alten Zustand der Stadtmundart um 1850 restaurieren.

Abschließen möchte ich mit einer Beobachtung: Für alt kann die T-freie Form aal, [aːl] eine Bedeutung tragen. Während eine aldě, [aldə] Person eben rein deskriptiv eine Person hohen Alters ist, kann die Verwendung aalě, [aːlə] hinsichtlich der Person eine Abwertung oder Geringschätzung markieren. Rückmeldungen aus dem Projekt bestätigen diese Sicht, die im Übrigen sich völlig mit den wissenschaftlichen Beobachtungen aus der Umgebung um 1920 deckt [6]. Somit vermag der Dialekt etwas zu unterscheiden, was die Hochsprache nicht kann! Das mag ein Grund dafür sein, dass aal, [aːl] heute noch so zahlreich ist gegenüber dem doch deutlich selteneren kaal, [kaːl] und dem nur noch vereinzelt auftretenden baal, [baːl].

C. Keil, Frankfurt Bockenheim, 18.12.2022 [7]

Anmerkungen:

1Vgl. Die 40 Sätze Nord- und Mitteldeutschlands sowie der späteren Erhebung Süddeutschlands. [zurück]

2In 135 Meldungen des Wortes alt findet sich 57 mal die Form alt, [alt] (42%) und 78 mal die Form aal, [aːl] (58%). [zurück]

3kalt wurde 74 mal gemeldet, bald 41 mal; mit den Zählungen kalt, [kalt] 61 (82%), kaal, [kaːl] 13 (18%); bald, [bald] 36 (88%), ball, [bal] 3 (7%) und baal, [baːl] 2 (5%). [zurück]

4Wenker, Georg (1889–1923): Sprachatlas des Deutschen Reichs. Handgezeichnetes Original von Emil Maurmann, Georg Wenker und Ferdinand Wrede. Marburg. Publiziert als: Digitaler Wenker-Atlas (DiWA). [zurück]

5Wenkerbogen Frankfurt; Wenkerbogen Bornheim. [zurück]

6Vgl. etwa den Eintrag zu alt im Südhessischen Wörterbuch . [zurück]

7Zuletzt aktualisiert am 26.12.2022. [zurück]